AN(GE)DACHT
zum Sonntag Quasimodogeniti

Durch eine Brille sieht sich´s besser

Richard braucht eine Brille. Er jammert: Jetzt werden ihn alle auslachen! Richard geht in die 1. Klasse, und Grundschulkinder können harte Urteile treffen. Gewöhn dich erst mal daran, sagen seine Eltern. Am Anfang musst du sie nur für ein paar Stunden tragen! Tatsächlich dauert es nur wenige Tage, dann setzt Richard seine Brille morgens auf die Nase und erst abends zum Schlafengehen wieder ab. Er merkt wohl, dass er jetzt besser lesen kann, dass er die Tiere im Wildpark besser erkennt und den Ball leichter fängt.

So zumindest muss es mir gegangen sein, als ich meine Brille bekommen habe – da war ich ungefähr so alt wie Richard. Plötzlich habe ich die Welt mit anderen Augen gesehen.

Bis heute erfahre ich manchmal Impulse, die mich die Welt mit anderen Augen sehen lassen. Die mir förmlich eine Brille aufsetzen. Lebensweisheiten, die mich zum richtigen Zeitpunkt treffen. Ich erinnere mich an einen Dozenten in der Ausbildung, der mich dazu ermutigte, Fehler zu machen. Das war der Zuspruch, den ich brauchte. Ich habe ihn mir angenommen, habe die Brille aufgesetzt und mich darin geübt, Neues zu wagen, auch wenn ich wusste, dass ich scheitern könnte.

Am Anfang fühlte es sich noch ungewohnt an, ich habe mich vorsichtig herangetastet, habe den neuen Weg ausprobiert – geschaut, ob die Brille passt. Tatsächlich lachte mich niemand aus, ich bekam von meinen Mitmenschen sogar Komplimente.

Andere Brillen habe ich anprobiert und gleich nach dem ersten Hindurchschauen beiseitegelegt, weil sie mir nicht beim Sehen geholfen haben. Manche Sätze geben mir keine Weitsicht im Leben. Anderen mögen sie gut passen – mir stehen sie nicht.

So probiere ich mich durch die Lebensbrillen. Manche bleibt länger, manche schenkt mir einen ganz neuen Durchblick, für manche ist die Zeit noch nicht reif. Aber immer wieder bin ich überrascht, was ich bisher übersehen habe.

Gedanken zum Sonntag Quasimodogeniti von Henrike Kant, Pfarrerin im Pfarrbereich Biederitz

ONLINE-ANDACHT
 

Andacht: Superintendentin Ute Mertens
Musik: Thorsten Fabrizi
Auszüge aus der Französischen Suite G-dur von Johann Sebastian Bach